„Das Kind gehört nicht zu uns!“
Hätte ich gestern fast laut gerufen. Meine Große war mir selten peinlich aber wenn Fremde kurz davor sind, das Jugendamt zu verständigen, dann darf man sich auch mal fürs Kind schämen. Oder?
Johanna hat seit Freitag Abend einen gemeinen Reizhusten. Sie hüstelt die ganze Zeit vor sich hin aber ohne dass der Spaß produktiv wäre. Kennen wir alle. Ist wirklich ätzend. Wegen diesem Reizhusten jedenfalls hat sie schlecht geschlafen und stand morgens um sechs Uhr auch schon wieder auf der Matte. Johanna ist von Haus aus eher sensibel. Oder emotionsstark, was es etwas besser trifft. Sie kann sich minutenlang scheckig lachen und zwei Minuten später in Tränen aufgelöst sein. Wegen Nichtigkeiten. Nichtigkeiten aus Sicht eines Erwachsenen. Für sie sind das ernste Vergehen. Zum Beispiel wenn man ihr sagt, dass ein Rock heute nicht so praktisch wäre. Unter der Matschhose auf dem Spielplatz. In diesem Fall lasse ich mich auf ihre Wünsche ein. Soll sie halt. Ist ja für Johanna unbequem, nicht für mich. Sie liebt es aber zum Beispiel auch, sich meine Schals in die Haare zu knoten. Sie spielt dann Rapunzel und mein Schal ist ihre Haarverlängerung, quasi. Damit würde sie auch am liebsten schlafen gehen aber da lasse ich nicht mit mir verhandeln. Mir ist die Gefahr zu groß, dass sie sich im Schlaf mit dem Ding stranguliert also halte ich ihren Unmut aus. Und der kann über die Welt hinweg fegen, wie ein Tropensturm. Und da kommen wir zum Problem.
Gestern waren wir in der Stadt zum Bummeln. Ich hab 80 Prozent meiner alten Pullis ausgemistet und bräuchte jetzt den ein oder anderen zum Ersatz. Ich hab jetzt nämlich nur noch drei im Schrank. Überschaubar. Vor allem, wenn man Kinder hat, die reflexhaft ihre Rotznasen an deiner Brust abwischen. Oder Spinat draufschmieren. Vorzugsweise. Jedenfalls haben wir Johanna einen Fruchtspieß mit weißer Schokolade gekauft. In der Stadt stehen überall Weihnachtsmarktbüdchen und wir sind da eher locker. Soll sie halb so einen Spieß bekommen. Eigentlich sollte sie mit ihrer Schwester teilen, was sie kreischend abgelehnt hat. Fanden wir schonmal nicht so prickelnd. Mit Gefühlen spiegeln (Wir verstehen, dass du den Spieß allein haben magst, aber der ist sehr teuer und wir können nur einen kaufen und Paulinchen isst eh nur gang ganz wenig) ging es dann. Hat Madame aber nicht gereicht. Sie wollte direkt einen Zweiten, was wir ihr nicht erlaubten. In einer Stunde wäre Mittagessenzeit und es war eh schon eine Ausnahme. Ihr Verständnis für unsere Ausführungen lag bei circa minus 98. Sie hat gekreischt! Hochrot im Gesicht wand sie sich im Kinderwagen. Da das nicht zum Erfolg führte, verlegte sie sich aufs „Aua“ schreien. Das macht sie immer, wenn sie so richtig wütend ist, weil sie was nicht haben darf. AUA, AUA, AUA!!! Immer wieder. Kennen wir schon. Wir fragen dann nach, wo es weh tut. Sie überlegt kurz und antwortet dann entweder gar nicht oder nennt wahllos Körperteile. Gestern kam keine Antwort. Nur immer wieder AUA!!!
Zwei Passanten blieben stehen und glotzten. Geglotzt haben viele. Doch diese beiden haben mich auch angesprochen. „Das Kind hat offensichtlich Schmerzen. Warum reagieren Sie denn nicht?!“, haben sie gesagt. Ich habe geantwortet: „Das Kind ist körperlich unversehrt, hat gerade keinen zweiten Fruchtspieß bekommen und ist drei Jahre alt.“ Hat die beiden nicht beeindruckt. „Das kann ich mir nicht vorstellen. So brüllt kein Kind, das keine Schmerzen hat!!“ Ich schwöre, die beiden waren kurz davor, die Polizei zu rufen. Die dachten wirklich, dass wir unser Kind quälen. Die ganze Episode hat vielleicht fünf Minuten gedauert. Fünf Stunden später konnte ich immer noch an nichts anderes denken. Sobald Pauline schlief, war Johanna wieder lammfromm. Ursachenforschung ist vergleichsweise einfach. Sie möchte mehr Aufmerksamkeit und wir tun viel dafür. Ich gehe zum Beispiel auch allein mit der Großen Einkaufen. Das liebt sie sehr. Aber das reicht ihr nicht.
Gestern hab ich mich gefühlt, wie die schlechteste Mama auf Erden. Heute, als mich beide glücklich beim Backen der Vanillekipferl angestrahlt haben, kam wieder etwas Selbstwertgefühl zurück. Ist das nicht saublöd? Dass einen Fremde so verunsichern können? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich meine Sache meistens ganz gut mache. Nicht immer. Aber das macht niemand.
Hinterlassen Sie einen Kommentar